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Heimatpost

 

 

 

 

 

Heimatpost

 

 

 

 

Kurzgeschichte

 

 

Ann-Kathrin stand mit verschränkten Armen auf dem Balkon ihrer kleinen Wohnung und widmete sich dem Flug der herbstlichen Wolken. Sie gönnte sich eine Arbeitspause. Ihrem Chef hatte sie versprochen, die Berechnungen in den Tabellen zuhause an ihrem Computer abzuschließen. Das war ein Vertrauensbeweis für sie, weil es sich um vertrauliche betriebsinterne Daten handelte. Sie hatte zwar keine große Lust, wollte aber ihre Zusage halten.

So betrachtete sie die vorbei fliegenden Wolken und gab sich der Phantasie hin. Sie deutete die Figuren der Wolken. Eine sah aus wie ein Eichhörnchen. Daraus wurde ein Elefant, aber nicht so wirklich. Dann ein Mann mit Krücke. Gebeugt. So wie Großmutter. Damals in Bingen. Immer zurückhaltend freundlich. Immer zum Trost bereit, wenn etwas wehtat. Im Herzen oder am Knie. So lieb. Zu allen. Zur ganzen Familie. Inzwischen ist die Familie weit zerstreut. Ann-Kathrin empfand Sehnsucht. In den Arm genommen zu werden. Und ein paar liebe Worte. So wie bei Großmutter. Sie wachte durch einen tiefen Seufzer aus ihren Wolkenträumen auf und hörte im Hintergrund das leise Surren des Computer-Ventilators.

Ich könnte mal nach der Post sehen.

Sie kehrte langsam an ihren Schreibtisch zurück und schaute E-Mails durch.

Der Absender der ersten E-Mail war ihr nicht bekannt. Dass sie trotzdem aufmerksam auf den Bildschirm schaute, lag an dem Betreff: Familie. Familie, das ist ein Reizwort für sie. Ihre Familie ist in alle Winde verstreut. Es gibt fast keine Kontakte. Familie, das ist zwei Mal Oma und Opa, Mutter, Vater Schwestern und Brüder und ziemlich ungezählte weitere Verwandte in verschiedenen Graden.

Wer von der Familie sollte ihr schreiben? Woher hat man meine E-Mail-Adresse?

Der Name des Absenders sagte ihr nichts. Der Absender muss ja nicht den Familiennamen tragen. Durch Heirat kommen ja andere Nachnamen dazu.

Ihre Familie hat ihre Wurzeln in Ostpreußen.

Dort ist jetzt niemand mehr von den Verwandten. Das liegt an der Flucht während des Zweiten Weltkrieges und der damit verbundenen Enteignung. Ist doch jemand dort geblieben? Mit russischem Namen?

Sie beschäftigte sich mit einem Blick zurück.

Das ist so, als wenn man an einem Fluß steht, dessen Quelle zu versiegen droht. Wenn man flussabwärts, also „zurück“ geht, wird der Fluß immer schmaler und der Weg zur Quelle ist ein trockenes, kieseliges Flussbett, was sich in einen zugewachsenen Wasserpfad verwandelt, nach dessen Sinn zu fragen sich vielleicht nicht mehr lohnt.

Sie gab den Gedanken auf und las den Text des noch unbekannten möglichen Verwandten:

Habe Ihre Adresse im Internet gefunden. Kennen Sie Mitglieder der Familie mit Ihrem Nachnamen, die in Gumbinnen oder in der Nähe gelebt haben? Ich erforsche den Stammbaum der Familie und würde mich freuen, wenn Sie mir behilflich sein könnten. Mit freundlichem Gruß.

Darunter der Name, so wie im Kopf der E-mail. Keine Adresse, keine Telefonnummer.

Was sollte mich daran hindern, auf diese Familien-Post zu antworten? Meine Großeltern haben ja dort gelebt. Das ist ja kein Geheimnis.

Sie antwortet:

Meine Großeltern väterlicherseits haben in Goldap gelebt. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges flohen sie nach Fehmarn. Beide leben nicht mehr.

Ein Klick und die Nachricht war weg. Sie geriet ins Grübeln über Familie.

Familie, das bedeutet Heimat, Geburt, Hochzeit, Ehe, Tod, Muttererde. Heimat ist Zugehörigkeit, Gefühl der Geborgenheit, Wohlfühlen, Ort der immer wieder kehrenden Sehnsucht. Heimat ist aber auch bedrückend, weil sie einengend sein kann. Sie gibt in einem gewissen Maße Verhaltensmuster vor. Diese bestimmen, ob man „dazu gehört“. Das gilt dann wohl auch für die Familie. Familiäre Tradition übt einen gewissen Druck auf die Familienmitglieder aus. Man muss in der Spur bleiben.

Ann-Kathrin fragte sich nach ihrer eigenen Familie. Die Familienmitglieder waren in verschiedenen Orten verstreut.

Sie haben sich so voneinander entfremdet. Die Kontakte sind nicht sehr zahlreich. Weihnachten ist da ein Höhepunkt. Und Geburtstage, Und Beerdigungen. Mehr ist nicht übrig geblieben.

Ob auf meine E-mail eine Reaktion kommt?

Ann-Kathrin wurde neugierig auf Familie und Heimat. Das verzögerte zwar die Fertigstellung der Tabellen für ihren Chef. Aber sie wollte einfach mal ein wenig recherchieren.

Sie stöberte im Internet nach Namen aus der alten Heimat. Es war so, als wenn man die Dachkammer eines alten Hauses besucht und Dinge findet, die nur noch einen Nutzen haben: Sie sind da. Natürlich ist es im Internet nicht staubig. Aber dieses Stöbern war ein doppeltes Alibi: für die Untätigkeit der Familie und für das vorübergehende Liegenlassen der Arbeit für den Chef. Ann-Kathrin fand Landkarten, Katasterauszüge und viele Namen. Aber das interessierte sie nicht wirklich.

Warum ist die Familie nicht mehr so beisammen wie früher? Liegt das an der Flucht damals? An diesem gewesenen Krieg? Das ist doch zu lange her. Ob ich etwas ändern kann? Ich sollte die verbliebenen Verwandten vielleicht doch mehr anrufen.

Sie entschied sich, zunächst auf die Antwort des noch unbekannten möglichen Verwandten zu warten. Der Spaziergang im Internet und im Kopf war schnell beendet. Sie nahm die Arbeit mit den Tabellen für ihren Chef wieder auf. Die Sachen sollten schließlich am nächsten Tag fertig sein.

Während der nächsten Tage war Ann-Kathrin doch etwas gespannt wegen der „Familien-Antwort“. Die eingehenden E-Mails beachtete sie aufmerksam.

Heute sind ihr zwei Nachrichten aufgefallen: „Sonderangebot Heimatfilme – nur gültig bis Ende der Woche!“ und „Familienausflüge an diesem Wochenende besonders preiswert!“

 

 

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