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Bei geschlossenen Lidern

Bei geschlossenen Lidern

 

Kurzgeschichte

 


Gerda hatte ein sehr gutes Gefühl. Ein guter Freund möchte bei ihr ein Bild bestellen. Er weiß, dass sie gerne malt. Sie ist Hobbymalerin. Das lenkt ab. Sie hat sich mit einem guten Freund in der Pizzeria getroffen. Ein von ihr gemaltes Bild möchte er haben. Das Thema könne sie selbst bestimmen. Angenehm wäre eine Komposition in Blau.

Gerda hat den guten Freund in der Pizzeria verabschiedet und ist in ihre Wohnung gegangen, hat sich ein Glas genommen, Rotwein gewählt und hatte sich nach dem ganz normalen Arbeitstag, einem der letzten vor ihrer baldigen Pensionierung, dem Kursus in Kunstgeschichte bei der Volkshochschule und der Pizza mit ihrem Freund in ihrem kleinen Wohnraum in den Ohrensessel gekuschelt und wollte entspannend etwas fernsehen.

Warum will er ein blaues Bild, dachte sie und erinnerte sich an die Hinweise der Lehrerin in der Volkshochschule.

„Die poetische Farbsymbolik der Farbe Blau bei Novalis wird vom Leser intuitiv wahrgenommen und kann auch anhand der modernen Erkenntnisse aus der Farbenpsychologie verstanden werden. Das Denken an die Farbe löst eine sehnsüchtige, träumerische Stimmung aus und erzeugt gleichzeitig Geborgenheit und Ruhe.“

Und weiter:

„Das Gedicht mit dem einfachen Titel "Gedicht" von Rolf-Dieter Brinkmann bricht bewusst mit der Tradition der blauen Blume, die das Finden des eigenen Ichs im Antlitz eines gegenüberstehenden Gesichts (blaue Blume, geliebte Person) symbolisierte. Die im Gedicht beschriebene Landschaft ist durch den Menschen weitgehend zerstört. Der Schluss "Ich gehe in ein anderes Blau" verdeutlicht die Haltung des heutigen Menschen: Statt Einheit mit der Natur zu suchen, zerstört er sie und er weiß, dass er es tut.“

Und ein anderer Aspekt zu der Farbe Blau:

„Der expressionistische Maler Wassily Kandinsky schrieb 1910 in seinem berühmten Buch "Über das Geistige in der Kunst":"Die Neigung des Blaus zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem."

Eine Anmerkung aus der Kunstgeschichte zu dem Thema „Blaue Farbe“:

Im Jahre 1912 gaben die Maler Franz Marc und Wassily Kandinsky einen Almanach heraus, den sie "Blauer Reiter" nannten. Dem Buch gingen zwei Kunstausstellungen voran, der Name bezeichnete die berühmte Münchener Künstlervereinigung. Beide Maler liebten die Farbe Blau und Pferde. Berühmt geworden sind die blauen Pferde von Franz Marc. Bei der blauen Blume der Romantik erkannte der Mensch in der Natur sein eigenes Antlitz. Marc ging mit seinen blauen Pferden jedoch wesentlich weiter: "Wir werden nicht mehr den Wald oder das Pferd malen, wie sie uns gefallen oder scheinen, sondern wie sie wirklich sind, wie sich der Wald oder das Pferd selbst fühlen, ihr absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt, den wir nur sehen... Wir müssen von nun an lernen, die Tiere und Pflanzen auf uns zu beziehen und unsere Beziehung zu ihnen in der Kunst darstellen."

Marc gab mit seinen blauen Pferden und den anderen Tierdarstellungen den Geschöpfen der Natur die Seele zurück, wie sie sie in den Höhlenmalereien noch hatten. Im träumenden Pferd von 1913 knüpfte Marc an die Nähe der Farbe Blau zu den Träumen an. Bei Marc waren es die Pferde, die Sehnsüchte hatten. Er selbst hatte eine innige Beziehung zu den Tieren, die "alles Gute" in ihm "erklingen" ließen.

 

Auch in der Dichtung hat man sich mit der Farbe blau beschäftigt:

„Rainer Maria Rilke wurde vor den Gemälden im Salon d´Automne (1907) nachdenklich und stellte sich vor, wie jemand die Geschichte der blauen Farbe in der Malerei aller Zeiten schreiben würde. Pablo Picasso schrieb in einem seiner Gedichte im Jahr 1930: "Sie ist das Beste, was es in der Welt gibt. Sie ist die Farbe aller Farben... Die blaueste von allen blauen." Hölderlin war fasziniert von der Ausstrahlung der Farbe Blau: "Verloren ins weite Blau, blicke ich oft hinauf an den Äther und hinein ins heilige Meer, und mir ist, als öffnet ein verwandter Geist mir die Arme, als löste der Schmerz der Einsamkeit sich auf ins Leben der Gottheit." Der Philosoph Schelling liebte die blaue Farbe über alles. Kandinsky konstatierte: "Blau ist die typisch himmlische Farbe. Sehr tief gehend entwickelt Blau das Element der Ruhe."

Auch in der heutigen Zeit spielt die Farbe blau eine bedeutende Rolle:

„Die poetische Kraft der Farbe Blau, die tiefen Gefühle und Sehnsüchte, die durch sie geweckt werden, ihre räumliche und zeitliche Dimension prädestinieren Blau heutzutage für den universellen Einsatz bei der wohltemperierten Farbwiedergabe in den elektronischen Medien. Denn hier geschieht mit den übrigen Farben eine sonderbare Wandlung. Durch die aufdringliche Leuchtkraft der Elektronik wird die originäre Wirkung der Farben vor allem auf Computerbildschirmen stark verändert und verfälscht und zum Teil ins Gegenteil verkehrt. Grün wird giftig, Rot wird knallig, Gelb wird kitschig. Nur Blau lässt sich offensichtlich nicht korrumpieren und behält würdevoll seine ursprüngliche Ausstrahlung.“

Selbst in der Psychologie spielt blau eine Rolle:

„Blau versetzt in einen Zustand des Träumens, die Farbe stimmt sehnsüchtig, sie wirkt beruhigend und führt zu einer ernsthaften Sicht der Dinge nach innen. Die Farbe Blau gilt als Farbe des Gemüts und stimmt positiv. Aus diesem Grunde sind unangenehme Dinge wie Strafzettel, Einzelfahrscheine oder "blaue Briefe", welche die Nichtversetzung eines Schülers in die nächste Klassenstufe ankündigen, blau gefärbt. Das Blau bewirkt, dass die Botschaften leichter angenommen werden.“

Blau als Brücke in transzendentale Bereiche:

„Blau ist die Farbe des Himmels. In China symbolisiert Blau die Unsterblichkeit. In vielen Kulturen wird diese Farbe mit den Göttern in Verbindung gebracht, wie im Hinduismus mit den Göttern Krishna und Vishnu. Im Alten Ägypten war Blau die Farbe des Gottes Amun und in der griechischen und römischen Antike die des Zeus bzw. des Jupiters.“

„Blau steht auch für Reinheit, Keuschheit und Treue. Hieraus entwickelte sich der folgende abendländische Hochzeitsbrauch für die Braut: Trage etwas altes, etwas neues, etwas geliehenes und etwas blaues.“

„Ägyptisch Blau ist die erste Farbe, die die Menschen hergestellt haben und wird spätestens seit 3100 vor unserer Zeitrechnung verwendet. Verwendet wurde sie unter anderem zur Dekoration der Decken von Tempelräumen und die Könige trugen blaue Kopftücher.“

„Der blaue Lotus, auch blaue Wasserlilie genannt, wurde der Göttin Hathor geopfert. Blaue Wasserlilien symbolisierten die Fruchtbarkeit, aber auch die Wiedergeburt und wurden entsprechend bei Beerdigungen als Grabbeigabe benutzt. Die Grabgirlanden des Pharao Ramses II. bestanden aus weißen und blauen Lotusblüten.“

„Bei dem Tissint-Tanz, Teil eines marokkanischen Hochzeitsrituals kleiden sich die Männer in blaue Indigogewänder (Gandouras). Der Tanz wird auch Dolch-Tanz genannt.“

 

Gerda hatte gut aufgepasst. Sie passt immer gut auf. Bald muss sie nicht mehr aufpassen, weil sie Rentnerin wird. Und ist doch noch gut in Form.

Sie widmete sich dem Fernsehprogramm und schaute blauvergessend hin. Die Schule war angenehm und eine gute Abwechslung. Daraus kann Gerda Ideen sammeln für die Zeit nach der Pensionierung.

 

Es war einfach zuviel Blau auf dem Bildschirm. Es war einfach zu blau. Sie tippte auf die Fernbedienung. Aus. Aber das Blau folgte ihr unter die geschlossenen Lider.

Sie geriet in einen Zustand des Fliegens. Im Fluge entgegnen ihr Bilder. Der Lärm der Stadt versteckt sich hinter einer Wand aus leichter Durchsichtigkeit. Die hin- und wieder aufkreischenden Sirenen der Kranken- und Rettungswagen, welche ins nahe gelegene Krankenhaus fahren, werden zu einem nicht mehr zuzuordnenden Murmeln. Von den Türmen der Kirchen fallen die Schläge der Glocken wie das reife Summen einer Hummel in die Bilder. Sie wird von den Bildern mehr und mehr mitgenommen.

Horus, der falkenähnliche Sohn des Osiris, dessen Bedeutung sie in dem Kurs erfahren hatte, erhob sich aus dem üblen Grau einer Müllhalde und schob seinen blauen Oberkörper wie eine Erlösung von dem Übel in das langsam vorbeiziehende Bild. Sein Falkengesicht blieb starr. Nilpferde aus dem blauen Fluß unter dem dahin schwindenden Horus nehmen seinen Platz ein und werden von aufsteigendem Wasser des fruchtbaren Flusses Nil umflossen. Aus den Rücken der glänzenden Tiere erwachsen unbekleidete, mit blauer Lasur überzogene Frauenfiguren. Aus dem Gesamtbild erheben sich neu und neu unbekannt Geschöpfe und Pflanzen, bis das Bild wie eine riesengroße Blase platzt.

Eine Blume mit großem Blütenkranz wie eine Sonnenblume neigt sich über die Schlafende und stärkt den süßen Schlummer. Unter reinem Himmelslicht spendet diese Blume blaues behütendes Licht, nimmt allmählich in ihrem Inneren die Gestalt eines freundlichem stimmlosen Gesichtes an und hüllt alsdann das Spürbare mehr und mehr in diesem Lichte ein.

Das Licht wird milder und milder, In dem werdenden Dunkel wächst die Struktur von Stoffen unter blau gefärbten Händen neben hölzernen Bottichen. Die Bottiche atmen schwere übel riechende Dämpfe aus und übergeben sich in Bäche, welche eine kleine Stadt durchqueren. An den Seiten der Bäche laufen Menschen eingehüllt in blaue Gewänder. Sie schweigen. Wie die Häuser, die sich mit ihren grauweißen Wänden hinter den Laufenden verstecken.

Das Traumbild folgt den bewegten Bächen. Die laufenden Figuren werden kleiner und fallen an den Rändern aus dem Bild. Mit dem fließenden Blau aller vereinten Bäche strömt der Träumenden die Vielgestalt der Halme, Gräser, Büsche und Bäume entgegen. Alles beschützt von einem blauen Himmel, dessen Wolken nach eben diesem Blau streben. Der Traum fliegt mit der Träumerin in nicht gezählte Stunden nach oben in diesen Himmel. Und sie schaut in die Tiefe, als sei die Welt aus blauem Glase. Durch die müden Lider gesehen.

Gerda geht schlaftrunken zu Bett.

Sie wird sich einen Leuchter kaufen. Morgen. Aus blauem Glase.

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