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Beginnt mit "B"

Bauchweh

 


Bauchweh

 

 

Kurzgeschichte

 


 

Die Teerdecke der Heerstraße von Berlin wölbte sich mit ihren Rändern nach oben, geriet zu einer Halbschale, wollte meine Gefährt von der Seite neben den unterbrochenen weißen Linien in die Mitte drücken. Wie da noch abbiegen. Linksabbieger bitte einordnen. Wie denn einordnen, wenn die Mittellinie die Fahrbahnen nicht mehr trennt?

Ich war beruflich unterwegs. Verkaufen. Seit Jahren. Es gab für mich gar keinen Zweifel, dass ich das alles organisieren konnte. Dieses Reisen, Arbeiten, Vorbereiten von Meetings. Und auch die Protokolle. Über alles Vorherige. Protokolle, die dann nur einer liest, um zu beweisen, dass eigentlich alles ganz anders gemeint war.

Heute ist wieder einer dieser Reisetage. Über dem Wolkenbett im Flugzeug sah ich Wolkenpilze und angreifende Wolkendrachen und Klobrillen und blätterte schwitzend in der Zeitung, die kostenlos gegeben wird und dann alsbald zerknautscht in den Netzen landet.

Landung in Berlin.

Heute habe ich den Leihwagen bei der Gesellschaft gemietet, bei der die netteste Bedienung saß. Oftmals wirken die Gesichter in den Kabinen etwas muffig. Besonders montags. Sie haben grüne Hütchen auf hinter dem Tresen. An Bier nicht zu denken, obwohl ich durstig war nach dem Flug. Das Catering war auch schon einmal besser. Unter den Hütchen leuchtete zunächst Lipgloss, so nennt man einen Lippenstift, der auf den Lippen glänzt. Rot zieht das Auge augenscheinlich zuerst an. Erst dann erblickte ich unter zwei rasierten Augenbrauen und Maskara-verzierten Augenbrauen blaue Augen, von denen ich einfach annahm, dass ihre Farbe nicht gefälscht ist.

„Wie lange werden Sie den Wagen benötigen?“

„Bis ich um die dicke Litfasssäule herum bin.“

„Wenn Sie ihn zurückgeben und hier geschlossen sein sollte, können Sie den Schlüssel einfach in dieses Kästchen werfen.“

Sie hat verstanden, dass ich den Wagen wieder hier abgeben werde.

Zur Übergabe der Papiere stand sie auf und beugte sich zu mir. Ich kann mir die Frage nicht beantworten, ob sie einen Push-up-Büstenhalter trug oder nicht. Ich bevorzuge eigentlich gar keine.

Jetzt muss ich mich einordnen. Eine rote Reklametafel stürzt sich unter dem frühen Abendhimmel von der Häuserwand herunter und langt durch das geöffnete Schiebedach nach mir. Als wenn ich jetzt Durst nach klebriger brauner Brause hätte. Ich werde in Berlin übernachten. Das Hotel liegt in der Nähe der ehemaligen Grenze zwischen zwei real existierenden Gesellschaften gleicher Sprache.

Es gibt immer ähnliche Prozesse, wenn ich auf Reisen gehe. Und ich muss viel reisen. Aus beruflichen Gründen. Verkauf. Sie wissen schon.

Also, ich mache prinzipiell alles selbst: Terminvereinbarungen, Reiseplanung, Buchung von Flug und Auto. Pünktlich stehe ich dann immer vor dem Büro des Kunden. In vielen Ländern. Morgen muss ich nach Rostock. Hansestadt. Mühlendamm.

Ich folge dem Navigator durch die Stadt. Früher habe ich einen Blick auf den Stadtplan geworfen, die grobe Richtung bestimmt und bin neugierig losgefahren. Da gab es noch die Mauer.

Der Leihwagen steht geschlossen in der Hotelgarage, mein Gepäck ist im Hotelzimmer abgestellt. Ich habe mich „frisch gemacht“ und werde noch ein wenig bummeln. „Frisch machen“ sagte auch immer der Ausbildungsunteroffizier während der Grundausbildung bei der Bundeswehr, wenn er uns durch das Gelände scheuchte. Auf der anderen Seite der Mauer war es bestimmt ähnlich.

Einen Platz, auf dem ich vor etwa einem Jahr abends in der Sonne saß, erkenne ich wieder. Ein Mann sitzt auf dem Trottoir. An die noch warme Hauswand gelehnt. Er hält einen Plastikbecher zwischen verschmutzten Fingern. Neben ihm liegt eine voll gestopfte Plastiktüte.

Die Bedienung ist freundlich. Sie sächselt. Sie trägt die Uniform des Hauses. Getränk und Essen schmecken. Ich bin zufrieden.

Ein weißes lang gestrecktes Auto (Car stretched) fährt langsam vorbei. Ein Brautpaar winkt von drinnen. Wie Zirkus. Eine kostenlose Vorführung. Manche klatschen. Zum Lesen der Zeitung ist es schön zu dunkel. Ich werde noch ein wenig sitzen bleiben, etwas trinken und meinen Sinnen Freiheit gewähren.

Babylonische Stimmen. Oben fallen die Lichter der Werbung über uns her. Das Aroma des Weines wird aufsteigend mit Kohlenstoffdioxid geschwängert. Die nicht durch Kleidung abgedeckte Haut wird mit Feinstaub angereichert. Meine Zunge streift unbewusst vielleicht selbstschützend den Feinstaubanteil von den Lippen ab. Die unter dem grünen Hütchen hatte glänzende Lippen. Manche Frauen an den Nachbartischen schminken sich die Lippen nach, nachdem sie Spuren von ihnen auf den Rändern der benutzten Gläser zurückgelassen haben.

In den Bädern dieser Drei-Millionen-Stadt lagern Lippenstifte. Für jede neue Mode einer. Und in den Handtaschen. Und anderswo, in Taxen, in Handschuhfächern, in Mülleimern. Alle hatten oder haben nur den einen Zweck: einen Mund mit einer uneigenen Farbe zu versehen. Es gibt auch Männer, die die eigene Lippenfarbe verändern. Das soll attraktiv machen. Anziehend. Wie ein Magnet. Und dann schaut man in die Augen und auf den Busen.

Berlin ist auch attraktiv. Sagt das Stadtmarketing. Welche Farbe würden Berlins Lippen tragen? Ich möchte jetzt die Farbe der Berliner Lippen sehen und die Wärme dieser Lippen spüren, in die Augen eintauchen und mich am städtischen Busen erfreuen.

Das Grau des Alltagsgesichtes dieser Stadt wird in die Untergangsfarbe des im Westen schwindenden Sonnenlichtes eingetaucht. Rhythmisch setzen Ampeln ein kräftigeres Rot in das Gesicht der Stadt. Die dunkelgrauen Straßendecken legen mit zunehmendem Sonnenuntergang schwarzes Maskara an und heben dies in den Kronen der straßenrahmenden Bäume, die nach und nach ihr Grün aufgeben müssen. Die Stadt atmet schwer.

In den Bienenstockhäusern wie in den Villen entlang der breiten Alleen wabert Atem wortloser Einsamkeit neben den spitzen Schreien kurzer Lust. Letzte Atemzüge sinken in die wärmespeichernden Häuserzeilen, zwischen die alten Baumgruppen in den Parkflächen, unter die Gleise der ratternden Metrowagen. Hoffnung steigt auf wie der erste Strahl der die Wolkendecke durchbrechenden Sonne. Davon steht dann auch etwas in den Nachrichtenblättern, welche in der großen Stadt auch zur Nacht verteilt werden. Und von der jungen Frau, die sie heute Morgen aus der Toilette des großen Kaufhauses getragen haben. Weggespritzt von den asphaltierten Wegen und der durchgesessenen Couch fernab elterlicher Fürsorge. Und von der Verfügbarkeit.

Ihr Großmaul reißt die Stadt auf und protzt mit Kubikkilometern von bewältigtem Unrat, prahlt mit den Investitionen zeitlich begrenzten Engagements von global wirtschaftenden Konzernen, preist sich mir den Sopranstimmen gastierender Opernsänger für ein paar buntere Nächte, proklamiert die Rettung der obdachlosen Fixer, provoziert weitere Zuwanderungen von Arbeit- und Hilfe-Suchenden und pumpt sich Kapital für die nächste Legislaturperiode.

Stille wohnt in der Stadt. Sie sitzt in der Haut des alten Mannes. Dessen Zorn sitzt hinter einer dieser vielen Hausmauern. Er hat seine Augen auf das Fensterkreuz vor sich fixiert. Er lebt seit seiner Geburt in dieser Stadt. Wurde hier gesäugt. Hat gespielt, gelernt, gearbeitet, gezeugt und ist nun alleine und gekreuzigt an einen Stuhl. Das Grau der Straßen und Häuser, der Gardinen vor dem Fensterkreuz nagen an dem Mann. Seine Stimme ist in den Lärmnebeln entwichen. Seine Augen verlieren sich in dem blühenden Grau. Er hört Stimmen in den Träumen, die Tage und Nächte begleiten. Die Zeit der Antworten ist erstickt. Die Hände greifen lahm nach Nahrung. Und die Haut atmet einen matten schleifenden Geruch aus. Der Zorn will diese Zeit nicht, die man nicht haben kann. Die einen hat. Setzt einen da oben in das graue Zimmer mit dem grauen Ausblick.

Laut kreischen die Farben der kurzberockten Tänzerinnen über die breite Straße. Lippenstiftrote Lackröcke, leichte Lässigkeit tanzt in die Zeit der Stadt. Ein Wimpernschlag aus Glück fährt durch den Leib des jungen Weibes und fällt zwischen torkelnden Plastikfetzen in die Abflussrinne neben dem Trottoir.

Es kreißt und modert, lockt und vertreibt, leuchtet und blendet in der Stadt. Aus den Flugzeugen, Bahnen, U-Bahn-Schächten und der Kanalisation, von den Türmen der Gotteshäuser fallen Nachrichten in die Straßenschluchten auf die Treibenden und Getriebenen. Mehr steht da, noch mehr. Und nicht immer genau hinsehen. Lieber auf die Karte des Restaurants. Diese halte ich in der Hand und entscheide mich für ein letztes Glas Rotwein.

Ich werde dann zum Hotel gehen und den grauen Bettler und seine Bündel nicht beachten. Die Stadt hat irgendwo ein Bett für ihn.

Ich denke an das Ziel von morgen.

 

Die kurzen Träume ähneln einem Abreißkalender. Aus den hohen Hallen der Fabrik dröhnen die Maschinen nach Aufträgen, der Bildschirm des Computers zeigt Handlungsbedarf, die Heckleuchten der Fahrzeuge auf der nächtlichen Autobahn bilden eine Nabelschnur von einer Stadt zur nächsten, die Zufahrtstraße wölbt sich auf, bildet bald eine Röhre, über mir die Bürgersteige. Die Lichter der Häuser fallen unter mich. Das Gesicht eines wichtigen Kunden schwebt vor mir wie ein Luftballon und verbindet sich mit dem dunkler werdenden Grün der Alleebäume. Blitze zischen aus den Zweigen und erleuchten knallrote Münder am Straßenrand. Riesige Müllautos schlucken den Straßenzug und ich fliege mit in ein abstürzendes Dunkel.

 

Zum Frühstück nehme ich die Akte des Kunden aus Rostock mit und blättere sie neben dem Kaffee durch. Die Träume habe ich weg geschoben und konzentriere mich auf meine Aufgabe. Planmäßig starte ich den Leihwagen in der Tiefgarage. Schnell werde ich in ihm ein Teil dieser Blechschlange, die sich durch die Strassen von Berlin zieht. Ich folge dem Plan es Navigators wie immer. Sicher finde ich die richtige Autobahnauffahrt. Nach etwa zwanzig Minuten sehe ich schon das Hinweisschild zur Autobahn nach Rostock.

Ich habe mich richtig eingeordnet, kurz mit der Firma telephoniert, damit man weiß, dass alles plangemäß läuft. Wenn es keine besonders großen Unfälle auf der Strecke geben wird, werde ich pünktlich beim Kunden sein.

Vor mir öffnet sich ein Tunnel auf dem Autobahnzubringer. Mit Richtgeschwindigkeit fahre ich hinein.

Es fährt mich. Nie und nimmer könnte ich aussteigen. Die beplankte Straße lenkt mich. Ich bin in einer Kette, gezogen, kenne deren Anfang nicht. Eine Autokette, von der ein Glied schon in Rostock ist und ein anderes aus den Räderwerken Berlins herausgleitet. Oder geschoben ist. Oder ausgestoßen, weil das Gesicht von gestern nicht mehr gebraucht wird. Es gibt genug. Bis auf die auf den Litfasssäulen, den Leinwänden, den Reklametafeln, den großen Bühnen, in den Stadien. Die werden digitalisiert und gezoomt und gedruckt und gesendet. Bis sie von der einen Stadt in die nächste gespuckt werden und irgendwann nicht mehr nach ihnen gefragt wird.

Ob das Hütchen sich an mich erinnern wird?

Morgen werde ich den Leihwagen zurückgeben.

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Bestien

 

 

Bestien

 

 

Kurzgeschichte

 

 

 

Ein Abendfest bei Hella. Gute Bekannte sind geladen. Die beste Freundin Irmgard ist auch dabei.

Irmgard kann man wirklich bei jeder Gesellschaft gut gebrauchen. Man setze sie einfach in irgendeinen beliebigen Kreis. Was wird sie tun? Sie wird reden. Sie redet zu jedem aufkommenden Thema.

Manche würden sagen, dass sie plappert. Plappert über Haarprobleme, den fettbedingten mittleren Ring an dem älter werdenden Körper. Aber das hat ja jeder.

Ja jeder. Aber nicht jeder redet überall mehr mit. Irmgard schon. Sie plappert.

Der Wein, der heute Abend bei diesem Fest gereicht wird, hat einen sympathischen Charakter, „fummelt“ so ein bisschen die Seele an, sagt Karin. Irmgard hört das gar nicht, weil sie über ihre Salatbeete redet. In ihrem Garten. Um den Betonklotz, den man Eigenheim nennt. Oben am Hang über der Stadt. Mit Hund. Und Kindern, die gelegentlich aus großer Entfernung anreisen und so herrlich erfolgreich sind. Ja, und der Mann. Der ist unterwegs.

 

Vor dem nächsten Schluck aus dem Glas schafft Irmgard noch einen Hinweis auf Mäuse. Das hört jemand und wiederholt.

Wie, Mäuse? Sie hatten Mäuse in dem schönen Haus?

 

Karin hat nicht ganz hingehört, weil drüben, aufder anderen Seite des Tisches, gerade über die Aussichtslosigkeit der politischen Kräfte geredet wurde, was ihre Aufmerksamkeit band.

Karin hatte auch schon Mäuse in ihrer Wohnung. Eigentumswohnung.

 

Gibt es Mäuse, die Irmgard heißen?

 

Das Gespräch führt sehr schnell weiter zu anderen Lebewesen. Eichhörnchen, die in den Dachgartenkübeln im Vorwinter ihre Nüsse verstecken und Ratten. Bei der Erwähnung von Ratten gruselt es Irmgard:

 

Igitt, das sind doch wahre Bestien!

 

Sie hört weg als Karin sagt, dass Ratten überlebensfähiger seien als Menschen. Diesen Ansatz will erst niemand verfolgen. Hella hinterfragt die Anmerkung von Karin.

 

Was meinst du mit überlebensfähiger?

 

Nun, sie sind anpassungsfähiger als der Mensch. Wenn man ihnen ein bestimmtes Gift verabreicht, sterben zunächst ein paar Tiere. Dann entwickeln sie Gegenstrategien und sind gegen dieses Gift immun.

 

Menschen sind das nicht, streut Irmgard ein.

 

Karin berichtet weiter:

 

Ratten sind erstaunliche Überlebenskünstler und können sich gut anpassen. Zum Beispiel können sie sich in Notzeiten von den abenteuerlichsten Dingen wie beispielsweise Seife, Leder, Papier, Textilien und Holz ernähren. Sie verschmähen dann natürlich auch tierische Kost wie z.B. Würmer, Insekten und kleine Vögel nicht.

 

Wenn das einmal mein Alter könnte! wirft Irmgard dazwischen. Würmer essen. Wie ich es ihm gönnen würde!

 

Wieso, fragt Hella, ich denke dein Mann ist ein Überlebenskünstler. Hast du nicht bei unserem letzten Treffen erzählt, dass er die Krise in seiner Firma gut überstanden hat?

 

Stimmt. Habe ich erzählt, aber dafür musste der andere Prokurist gehen. Mein Albert hat ihn ausmanövriert, den Herbert, seinen Kollegen. Er hat ihn quasi das Gift fressen lassen.

 

Ist das nicht clever? Er hat überlebt.

 

Und was haben wir davon? Er hätte auch eine andere Lösung akzeptieren können. Eine, die kein Opfer verlangt hätte. Sie hätten sich mit weniger Einkommen abfinden können. Alle.

 

Da kenne ich mich nicht aus.

 

Wollt ihr noch mehr über diese Tiere hören? fragt Karin. Da eine kleine Pause eingetreten ist, informiert sie weiter:

 

Es sind sehr fruchtbare Tiere. Schon nach sechs Wochen nach der Geburttritt bei ihnen die Geschlechtsreife ein.

 

Die fehlt meinem Alten manchmal, kommentiert Irmgard.

 

Das verstehe ich jetzt nicht, meint Karin und ergänzt: im Jahr gibt es sechs bis acht Würfe. Was ich ganz interessant finde, die Paarungsbereitschaft geht von den weiblichen Tieren aus.

 

Dagegen ist ja nichts zu sagen, meint Hella, hebt ihr Glas und prostet allen mit den Worten zu: danke für den kleinen Vortrag unserer Biologin, aber ich denke, dass wir nun dieses Terrain verlassen.

 

Sechs bis acht, spricht Irmgard vor sich hin und nippt an ihrem Glas. Da kommen wir nicht hin.

 

Hella schaut in die Runde und holt noch zwei Flaschen Wein.

 

Irmgard kramt in ihrer Handtasche und sucht nach ihrem Handy: Ich werde Herbert doch anrufen.

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Bei geschlossenen Lidern

Bei geschlossenen Lidern

 

Kurzgeschichte

 


Gerda hatte ein sehr gutes Gefühl. Ein guter Freund möchte bei ihr ein Bild bestellen. Er weiß, dass sie gerne malt. Sie ist Hobbymalerin. Das lenkt ab. Sie hat sich mit einem guten Freund in der Pizzeria getroffen. Ein von ihr gemaltes Bild möchte er haben. Das Thema könne sie selbst bestimmen. Angenehm wäre eine Komposition in Blau.

Gerda hat den guten Freund in der Pizzeria verabschiedet und ist in ihre Wohnung gegangen, hat sich ein Glas genommen, Rotwein gewählt und hatte sich nach dem ganz normalen Arbeitstag, einem der letzten vor ihrer baldigen Pensionierung, dem Kursus in Kunstgeschichte bei der Volkshochschule und der Pizza mit ihrem Freund in ihrem kleinen Wohnraum in den Ohrensessel gekuschelt und wollte entspannend etwas fernsehen.

Warum will er ein blaues Bild, dachte sie und erinnerte sich an die Hinweise der Lehrerin in der Volkshochschule.

„Die poetische Farbsymbolik der Farbe Blau bei Novalis wird vom Leser intuitiv wahrgenommen und kann auch anhand der modernen Erkenntnisse aus der Farbenpsychologie verstanden werden. Das Denken an die Farbe löst eine sehnsüchtige, träumerische Stimmung aus und erzeugt gleichzeitig Geborgenheit und Ruhe.“

Und weiter:

„Das Gedicht mit dem einfachen Titel "Gedicht" von Rolf-Dieter Brinkmann bricht bewusst mit der Tradition der blauen Blume, die das Finden des eigenen Ichs im Antlitz eines gegenüberstehenden Gesichts (blaue Blume, geliebte Person) symbolisierte. Die im Gedicht beschriebene Landschaft ist durch den Menschen weitgehend zerstört. Der Schluss "Ich gehe in ein anderes Blau" verdeutlicht die Haltung des heutigen Menschen: Statt Einheit mit der Natur zu suchen, zerstört er sie und er weiß, dass er es tut.“

Und ein anderer Aspekt zu der Farbe Blau:

„Der expressionistische Maler Wassily Kandinsky schrieb 1910 in seinem berühmten Buch "Über das Geistige in der Kunst":"Die Neigung des Blaus zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem."

Eine Anmerkung aus der Kunstgeschichte zu dem Thema „Blaue Farbe“:

Im Jahre 1912 gaben die Maler Franz Marc und Wassily Kandinsky einen Almanach heraus, den sie "Blauer Reiter" nannten. Dem Buch gingen zwei Kunstausstellungen voran, der Name bezeichnete die berühmte Münchener Künstlervereinigung. Beide Maler liebten die Farbe Blau und Pferde. Berühmt geworden sind die blauen Pferde von Franz Marc. Bei der blauen Blume der Romantik erkannte der Mensch in der Natur sein eigenes Antlitz. Marc ging mit seinen blauen Pferden jedoch wesentlich weiter: "Wir werden nicht mehr den Wald oder das Pferd malen, wie sie uns gefallen oder scheinen, sondern wie sie wirklich sind, wie sich der Wald oder das Pferd selbst fühlen, ihr absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt, den wir nur sehen... Wir müssen von nun an lernen, die Tiere und Pflanzen auf uns zu beziehen und unsere Beziehung zu ihnen in der Kunst darstellen."

Marc gab mit seinen blauen Pferden und den anderen Tierdarstellungen den Geschöpfen der Natur die Seele zurück, wie sie sie in den Höhlenmalereien noch hatten. Im träumenden Pferd von 1913 knüpfte Marc an die Nähe der Farbe Blau zu den Träumen an. Bei Marc waren es die Pferde, die Sehnsüchte hatten. Er selbst hatte eine innige Beziehung zu den Tieren, die "alles Gute" in ihm "erklingen" ließen.

 

Auch in der Dichtung hat man sich mit der Farbe blau beschäftigt:

„Rainer Maria Rilke wurde vor den Gemälden im Salon d´Automne (1907) nachdenklich und stellte sich vor, wie jemand die Geschichte der blauen Farbe in der Malerei aller Zeiten schreiben würde. Pablo Picasso schrieb in einem seiner Gedichte im Jahr 1930: "Sie ist das Beste, was es in der Welt gibt. Sie ist die Farbe aller Farben... Die blaueste von allen blauen." Hölderlin war fasziniert von der Ausstrahlung der Farbe Blau: "Verloren ins weite Blau, blicke ich oft hinauf an den Äther und hinein ins heilige Meer, und mir ist, als öffnet ein verwandter Geist mir die Arme, als löste der Schmerz der Einsamkeit sich auf ins Leben der Gottheit." Der Philosoph Schelling liebte die blaue Farbe über alles. Kandinsky konstatierte: "Blau ist die typisch himmlische Farbe. Sehr tief gehend entwickelt Blau das Element der Ruhe."

Auch in der heutigen Zeit spielt die Farbe blau eine bedeutende Rolle:

„Die poetische Kraft der Farbe Blau, die tiefen Gefühle und Sehnsüchte, die durch sie geweckt werden, ihre räumliche und zeitliche Dimension prädestinieren Blau heutzutage für den universellen Einsatz bei der wohltemperierten Farbwiedergabe in den elektronischen Medien. Denn hier geschieht mit den übrigen Farben eine sonderbare Wandlung. Durch die aufdringliche Leuchtkraft der Elektronik wird die originäre Wirkung der Farben vor allem auf Computerbildschirmen stark verändert und verfälscht und zum Teil ins Gegenteil verkehrt. Grün wird giftig, Rot wird knallig, Gelb wird kitschig. Nur Blau lässt sich offensichtlich nicht korrumpieren und behält würdevoll seine ursprüngliche Ausstrahlung.“

Selbst in der Psychologie spielt blau eine Rolle:

„Blau versetzt in einen Zustand des Träumens, die Farbe stimmt sehnsüchtig, sie wirkt beruhigend und führt zu einer ernsthaften Sicht der Dinge nach innen. Die Farbe Blau gilt als Farbe des Gemüts und stimmt positiv. Aus diesem Grunde sind unangenehme Dinge wie Strafzettel, Einzelfahrscheine oder "blaue Briefe", welche die Nichtversetzung eines Schülers in die nächste Klassenstufe ankündigen, blau gefärbt. Das Blau bewirkt, dass die Botschaften leichter angenommen werden.“

Blau als Brücke in transzendentale Bereiche:

„Blau ist die Farbe des Himmels. In China symbolisiert Blau die Unsterblichkeit. In vielen Kulturen wird diese Farbe mit den Göttern in Verbindung gebracht, wie im Hinduismus mit den Göttern Krishna und Vishnu. Im Alten Ägypten war Blau die Farbe des Gottes Amun und in der griechischen und römischen Antike die des Zeus bzw. des Jupiters.“

„Blau steht auch für Reinheit, Keuschheit und Treue. Hieraus entwickelte sich der folgende abendländische Hochzeitsbrauch für die Braut: Trage etwas altes, etwas neues, etwas geliehenes und etwas blaues.“

„Ägyptisch Blau ist die erste Farbe, die die Menschen hergestellt haben und wird spätestens seit 3100 vor unserer Zeitrechnung verwendet. Verwendet wurde sie unter anderem zur Dekoration der Decken von Tempelräumen und die Könige trugen blaue Kopftücher.“

„Der blaue Lotus, auch blaue Wasserlilie genannt, wurde der Göttin Hathor geopfert. Blaue Wasserlilien symbolisierten die Fruchtbarkeit, aber auch die Wiedergeburt und wurden entsprechend bei Beerdigungen als Grabbeigabe benutzt. Die Grabgirlanden des Pharao Ramses II. bestanden aus weißen und blauen Lotusblüten.“

„Bei dem Tissint-Tanz, Teil eines marokkanischen Hochzeitsrituals kleiden sich die Männer in blaue Indigogewänder (Gandouras). Der Tanz wird auch Dolch-Tanz genannt.“

 

Gerda hatte gut aufgepasst. Sie passt immer gut auf. Bald muss sie nicht mehr aufpassen, weil sie Rentnerin wird. Und ist doch noch gut in Form.

Sie widmete sich dem Fernsehprogramm und schaute blauvergessend hin. Die Schule war angenehm und eine gute Abwechslung. Daraus kann Gerda Ideen sammeln für die Zeit nach der Pensionierung.

 

Es war einfach zuviel Blau auf dem Bildschirm. Es war einfach zu blau. Sie tippte auf die Fernbedienung. Aus. Aber das Blau folgte ihr unter die geschlossenen Lider.

Sie geriet in einen Zustand des Fliegens. Im Fluge entgegnen ihr Bilder. Der Lärm der Stadt versteckt sich hinter einer Wand aus leichter Durchsichtigkeit. Die hin- und wieder aufkreischenden Sirenen der Kranken- und Rettungswagen, welche ins nahe gelegene Krankenhaus fahren, werden zu einem nicht mehr zuzuordnenden Murmeln. Von den Türmen der Kirchen fallen die Schläge der Glocken wie das reife Summen einer Hummel in die Bilder. Sie wird von den Bildern mehr und mehr mitgenommen.

Horus, der falkenähnliche Sohn des Osiris, dessen Bedeutung sie in dem Kurs erfahren hatte, erhob sich aus dem üblen Grau einer Müllhalde und schob seinen blauen Oberkörper wie eine Erlösung von dem Übel in das langsam vorbeiziehende Bild. Sein Falkengesicht blieb starr. Nilpferde aus dem blauen Fluß unter dem dahin schwindenden Horus nehmen seinen Platz ein und werden von aufsteigendem Wasser des fruchtbaren Flusses Nil umflossen. Aus den Rücken der glänzenden Tiere erwachsen unbekleidete, mit blauer Lasur überzogene Frauenfiguren. Aus dem Gesamtbild erheben sich neu und neu unbekannt Geschöpfe und Pflanzen, bis das Bild wie eine riesengroße Blase platzt.

Eine Blume mit großem Blütenkranz wie eine Sonnenblume neigt sich über die Schlafende und stärkt den süßen Schlummer. Unter reinem Himmelslicht spendet diese Blume blaues behütendes Licht, nimmt allmählich in ihrem Inneren die Gestalt eines freundlichem stimmlosen Gesichtes an und hüllt alsdann das Spürbare mehr und mehr in diesem Lichte ein.

Das Licht wird milder und milder, In dem werdenden Dunkel wächst die Struktur von Stoffen unter blau gefärbten Händen neben hölzernen Bottichen. Die Bottiche atmen schwere übel riechende Dämpfe aus und übergeben sich in Bäche, welche eine kleine Stadt durchqueren. An den Seiten der Bäche laufen Menschen eingehüllt in blaue Gewänder. Sie schweigen. Wie die Häuser, die sich mit ihren grauweißen Wänden hinter den Laufenden verstecken.

Das Traumbild folgt den bewegten Bächen. Die laufenden Figuren werden kleiner und fallen an den Rändern aus dem Bild. Mit dem fließenden Blau aller vereinten Bäche strömt der Träumenden die Vielgestalt der Halme, Gräser, Büsche und Bäume entgegen. Alles beschützt von einem blauen Himmel, dessen Wolken nach eben diesem Blau streben. Der Traum fliegt mit der Träumerin in nicht gezählte Stunden nach oben in diesen Himmel. Und sie schaut in die Tiefe, als sei die Welt aus blauem Glase. Durch die müden Lider gesehen.

Gerda geht schlaftrunken zu Bett.

Sie wird sich einen Leuchter kaufen. Morgen. Aus blauem Glase.

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