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Der Schrei

 

 

 

Der Schrei

 

 

Kurzgeschichte

 


Ein schriller, schneidender, fast schmerzender Schrei schreckt Georg aus dem morgendlichen Restschlaf und zwingt ihn aus dem Bett, presst sein Gesicht an die nachtfeuchte Scheibe des Schlafzimmerfensters. Es ist nichts zu sehen. Nichts Besonders auf der Straße. Grau glänzen die Pflastersteine und spiegeln das blasse Licht der Leuchtwerbung des benachbarten Kolonialwarengeschäftes wider. Hin und wieder rollen die Reifen vorbeifahrender Autos über dieses Pflaster und hinterlassen für wenige Momente Profilspuren wie einen Hinweis, dass es weiter geht. Sie hinterlassen noch andere Spuren, die des verbrannten Treibstoffes.

Georg hat eine gute Nase. Er riecht seine Wohnung, seine Möbel, die verschiedenen Düfte der Speisen, die er sich gelegentlich selbst zubereitet. Er findet sich in seiner Wohnung nach den Geruchsspuren zurecht. Er riecht seine Wege. Er kann sie, von seiner Nase geführt, sogar zurückverfolgen. Und er riecht seine Katze Peterle und weiß, ohne zu schauen, wo sie sich in seiner Wohnung befindet.

Der schrille Schrei ist schon lange gestorben. Schreie kann man nicht riechen. Georg riecht sein Bett und überlegt, ob er dessen Anziehungskraft nachgibt oder den Tag wegen des Schreis früher beginnt als sonst.

Sein Entschluss quält ihn, sobald er ihn gefasst hat. Sein Körper wird dank des Entschlusses, nun doch nicht mehr ins Bett zurück zu gehen, in die Küche geschoben. Die Kaffeemaschine verlangt bedienende Hände und zerblubbert ein paar Minuten der Küchenzeit.

Immer, wenn Georg seinen Morgenkaffee zubereitet, riecht er die zunehmende Nähe von Peterle, der mit Georg zusammen seine Morgenmilch schlabbert. Peterle ist eigensinnig wie alle Kater, aber er hat eine Eigenheit, auf die Georg sich verlassen kann. Er ist pünktlich von seinen nächtlichen Ausflügen zurück zur Morgenmilch.

Heute riecht Georg Peterle nicht. Die Milch aus dem auf dem Küchenboden stehenden Napf lässt ihren Geruch ohne die fellige Begleitung aufsteigen und beunruhigt Georg. Heute ist der Tagesbeginn anders als an allen vorangegangenen Tagen. Ein schriller Schrei, ein schmerzlicher, da draußen.

Und Peterle ist nicht zur Morgenmilch gekommen.

Die Spur von Peterle führt zu dem kleinen Badezimmerfenster, welches Georg immer für ihn geöffnet hält, wenn er zu seinen nächtlichen Streifzügen entschwindet und später wieder in die Wohnungzurück will.

Georg schnuppert die alten Geruchsspuren von Peterle auf und weiß, dass er nicht durch das kleine Badezimmerfenster zurückgekommen ist. Er muss seinen Kater suchen.

Das Aroma des Bodenpflegemittels im Treppenhaus prallt an Georgs Wohnungstür ab und sinkt über die Treppenstufen bis zur Haustür, durch welche es beim gelegentlichen Öffnen auf die quadratischen Platten des Bürgersteiges schubweise entweicht. Georg schätzt dieses Aroma nicht sehr, aber es berichtet ihm, dass er in seinem Haus ist und er lässt sich davon umarmen, als er, ohne den Morgenkaffee zu Ende genossen zu haben, seine Wohnungstür von außen verschließt, um die Spur von Peterle aufzunehmen.

Als er sich auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnungstür umdreht, schlägt ihn schwarzer Geruch. Ein praller übertünchender Schlag aus einer unbekannten Ferne packt seine Sinne und lässt ihn auf der Stelle erstarren.

Er riecht den Tod.

Auf dem Treppenabsatz steht ein alter Schuhkarton. Jetzt riecht Georg den schrillen schmerzenden Schrei. Peterle hat seinen felligen Schnurrgeruch unten gelassen, unten auf dem nachtfeuchten Pflaster. Hinter einem kurzfristige Spuren hinterlassenden Gefährt.

Georg schaut nicht in den Karton. Das Treppenhausaroma trägt ihn auf die Straße. Nicht weit von der Haustüre entfernt wittert er den felligen Geruch von Peterle, angereichert und gepaart mit einer Dieselabgasfahne.

Georg kennt die unterschiedlichen Visitenkarten der mobilen technischen Errungenschaften, den knattrigen Ablass der alten Zweitakter hat er schon in seiner Jugend aufgenommen. Die Treibstoffgase der benzinverzehrenden Mobile kann er gut von dem weichen Duftkot der Dieselfahrzeuge unterscheiden.

Er folgt der Felldieselspur, wobei der Anteil des Fellgeruches rasch entschwindet. Aber Georg bleibt an der Duftspur. Er kann keine Rücksicht auf die vorbei fahrenden Mobile nehmen. Er will den Täter finden. Sein Körper neigt sich zu dieser Aufgabe tief herunter, krümmt sich sichelartig, schneidet die Duftscheiben der Straßen durch und ist unempfindlich gegen jeden um ihn aufsteigenden oder fallenden Ton. Einer dieser letzten Töne kommt von der standardisierten Sirene eines Krankenwagens.

Georg kann keine Zeit riechen. Aber neue Räume. Es riecht hell, weiß. Weiß riecht auch die Schwester, die in den Raum tritt.

Sie schaut wie eine Katze.

 

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